In Korntal trifft sich die ganze Welt

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"Es ist ein Privileg, in Deutschland leben zu dürfen“

Wie sich 20 junge Erwachsene aus der ganzen Welt während Corona in Korntal fühlen und welche Erfahrungen sie >in ihren Herkunftsländern mit der Pandemie gemacht haben

„Stop and Go“ umschreibt sich knapp und präzise das Orientierungsjahr der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal, kurz „Ojahr“ genannt. Wohl noch nie in der bald 20-jährigen Geschichte dieses Berufsorientierungsjahres für junge Erwachsene zwischen 17 und 21 Jahren war dieser Slogan passender als im Pandemiejahr 2020. „Stop“, das steht bereits seit dem Frühjahr für eine Welt, deren Geschwindigkeit radikal gedrosselt wurde. Das erlösende und von vielen Millionen heiß ersehnte „Go“ würde andererseits das Ende dieser Ausnahmezeit bedeuten, ein Zurück in eine neue Normalität.

Auch die 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Ojahrs hatten sich ihre zehn Monate in Korntal zunächst ein wenig anders vorgestellt. Die Planungen hat das Virus bereits an der ein oder anderen Stelle durcheinandergebracht, wie Leiter Andy Messner erzählt: „Ein Heimfahrwochenende haben wir ausfallen lassen, um uns nicht unnötig einer Infektionsgefahr auszusetzen, Feierlichkeiten und Sport müssen stark eingeschränkt werden und auch ein diakonischer Einsatz in Hessen musste bereits ausfallen.“ „Stop“ hieß es auch für manche Praktika der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in umliegenden Betrieben, die, so Messner, deutlich erschwert waren oder ganz ausfallen mussten. Und bei vielen, insbesondere jenen aus weit entfernten Ländern, ist Weihnachten mit der Familie in diesem Jahr ohnehin mit einem großen Fragezeichen versehen.

Gemeinsames Leben, diakonische Einsätze im In- und Ausland, Praktika in verschiedenen Branchen dazu ein lebenspraktischer, an der Bibel orientierter Werteunterricht: Einen „Stop“ in Korntal bedeutet für Ojahrler eine kreative Pause, die ihnen Klarheit verschaffen soll, welchen Beruf sie später einmal ausüben wollen. Dieses „Stop“ hilft besonders auch denen, die als Kinder mindestens eines deutschen Elternteils bis zum Schulabschluss nicht in Deutschland aufgewachsen sind. Sie kommen in diesem Jahr aus Nepal, den Philippinen, Thailand, Kambodscha, Kenia, Irland, Brasilien, Griechenland und der Schweiz. Sie möchten die deutsche Kultur besser kennenlernen, die Sprache besser beherrschen. Nicht wenige planen, nach dem Ojahr in Deutschland zu bleiben, um ihre Ausbildung oder ein Studium zu beginnen.

David Kumdee beispielsweise hatte eine kleine Weltreise hinter sich, als er im Sommer nach Korntal kam. Er ist zwar in Deutschland als Sohn einer Deutschen und eines Thai geboren. „Ich habe aber mein ganzes Leben in Thailand verbracht“, erzählt der 20-Jährige. Nach dem Schulabschluss war er erst mal in Hawaii und Südafrika unterwegs und hatte eigentlich einen Trip auf der Road 66 in den USA geplant. Als er sein Visum in Deutschland erneuern musste, war schon Corona-Zeit und die Reiseeinschränkungen in Kraft. Er machte aus der Not eine Tugend und entschied sich für das Ojahr, zu dem ihm seine Mutter geraten hatte. Im Vergleich mit den USA, so sagt er, findet er den Umgang mit Corona hierzulande eher faktenbasiert und weniger hysterisch.

Der 18-jährige Christian Malessa kommt von den Philippinen. „In dieser Zeit ist es ein Privileg, in Deutschland leben zu dürfen“, sagt er. Als er in Europa ankam, gab es auf den Philippinen bereits einen mehrmonatigen Lockdown mit harten Einschränkungen. „Im Gegensatz zu dort kann ich in Deutschland Freunde treffen und Fußball spielen“, freut sich Christian. Corona sorgt zudem nach wie vor für große wirtschaftliche Not im Inselstaat im Pazifischen Ozean. Als es losging half Familie Malessa zwei bekannten Familien mit Lebensmitteln, weil sie im Lockdown ihre Arbeit verloren hatten. „Bei vielen Filipinos heißt die Rechnung: Keine Arbeit, kein Essen“, bringt es Christian auf den Punkt. Erst nach einigen Monaten habe lediglich einer der beiden Familienväter wieder Arbeit gefunden. Der anderen Familie helfen Christians Eltern noch heute mit Medikamenten und zahlen ihr die Wasserrechnung.

Die drastischen Kollateralschäden der weltweiten Pandemie hat auch David Chinnery erlebt. Der 19-Jährige ist in Nepal aufgewachsen. Das ostasiatische Land ist eines der ärmsten der Welt. Corona und die strengen Auflagen der Regierung setzen den Menschen jetzt noch mehr zu. David hat gesehen, wie trotz der Ansteckungsgefahr die Regeln ignoriert wurden: „Die Nepalesen müssen arbeiten, sie haben keine Wahl. Die Leute sagen sich: ‚Corona ist weniger schlimm als zu verhungern‘“, erzählt er. Davids Mutter stammt aus Österreich, sein Vater aus England. Das Maske-Tragen war für seine westlich orientierte Familie Pflicht. „Es war uns wichtig, Vorbild zu sein.“

Trotz der Einschränkungen, die auch in Deutschland gelten, machen die Ojahrler das Beste aus der Situation und besinnen sich auf das Wesentliche, wie Andy Messner sagt. Statt Einsätzen in Schulen oder in Kirchengemeinden nehmen die 20 jungen Erwachsenen selbst inszenierte Theaterstücke mit dem Smartphone auf und präsentieren sie in den Social Media-Kanälen des Ojahrs. Außerdem engagieren sie sich beim digitalen Adventskalender der Brüdergemeinde. Langeweile kommt so keine auf, die Gemeinschaft sei intensiver als früher, berichtet Andy Messner. Und trotzdem: „Wir halten an der Hoffnung fest, dass sich die Lage im Frühjahr entspannt und dann Gewohntes wieder möglich wird. Gleichzeitig ist die Pandemie aber auch für uns eine Chance, uns zu fragen: Was ist wirklich notwendig und was nicht?“

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